Landschaftszerstörung durch Zersiedlung

Landschaftszerstörung durch Zersiedlung
Landschaftszerstörung durch Zersiedlung
 
Als Zersiedelung bezeichnet man das unkontrollierte, flächenhafte Wachstum von Siedlungen, vor allem am Rand von Großstädten. Dabei sind Wohnbebauungen mit flächenextensiven Wirtschaftseinrichtungen, zum Beispiel Industriebetrieben und Flughäfen, durchsetzt. Die Zersiedelung hat mit ihren Zerschneidungs- und Verinselungseffekten eine über die negativen Folgen ihres Flächenverbrauchs hinausgehende landschaftszerstörerische Wirkung und ist somit ein wesentlicher Teilbereich des »Landschaftsverbrauchs«. Darunter versteht man die zunehmende Umwidmung von »offenem Land«, das heißt Land mit natürlicher bis naturfremder Vegetation, Wald und landwirtschaftlich genutztem Land, zu Siedlungs-, Erholungs- und Verkehrsflächen. Generell ist der Begriff des Landschaftsverbrauchs jedoch irreführend, da Land nicht »verbraucht« werden kann.
 
 Dimensionen der Zersiedelung
 
Der Begriff der Zersiedelung wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt; er entstand infolge des flächenhaften Auftretens von Splitter- und Streusiedlungen. Das Problem selbst existierte jedoch bereits im 19. Jahrhundert, nachdem die noch aus dem Mittelalter übernommenen Bauvorschriften aufgegeben wurden und die Städte ungeheuer schnell wuchsen. Zersiedelungserscheinungen treten aber auch im ländlichen Raum auf.
 
Gerade Deutschland, mit durchschnittlich 228 Menschen pro Quadratkilometer eines der am dichtesten besiedelten Länder der Erde, unterliegt in besonderem Maß der Gefahr einer zunehmenden Zersiedelung. Siedlungen bedecken bereits 12,5 Prozent der Fläche, wobei in dieser Zahl die Verkehrsflächen eingeschlossen sind. In den 1980er-Jahren wurden täglich 165 Hektar freier Landschaft zerstört, jedes Jahr mehr als 60 000 Hektar — eine Fläche größer als der Bodensee.
 
In allen anderen dicht besiedelten Industrieländern bietet sich ein ähnliches Bild. Besonders existenzgefährdende Auswirkungen aber hat die Zersiedelung in dicht besiedelten Ländern der Dritten Welt, wie beispielsweise Bangladesh oder Indien. Aufgrund der gering entwickelten Wirtschaftsstruktur kann dort nicht annähernd allen Menschen eine ausreichende Nahrungsgrundlage geboten werden. Eine Landbewirtschaftung wird in diesen zersiedelten Gebieten zwar betrieben, doch kann sie dem Bevölkerungsdruck kein ausreichendes Gegengewicht bieten. In diesen Ländern wurden jedoch Untersuchungen zu den Auswirkungen von Zersiedelung auf Natur und Landschaft hinter dringendere Probleme zurückgestellt, sodass es an konkreten Ergebnissen mangelt. Daher kann dieser Aspekt hier nicht näher erläutert werden.
 
 Das Umland von Ballungsgebieten
 
Gerade im Umland der Ballungsgebiete wuchert der Siedlungskrebs besonders schnell. Hier werden Industrie und Großprojekte, wie beispielsweise Flughäfen und Mülldeponien, angesiedelt. Der Raum muss dabei immer mehr Einwohner aufnehmen und soll gleichzeitig noch der Erholung der Stadtbevölkerung dienen. Dies setzt jedoch wiederum ein Restpotenzial von Naturraumflächen voraus. Die Vielfalt der Nutzungsinteressen in diesem Raum endet zumeist in einem kleinsträumigen Neben- und Durcheinander verschiedenster Funktionen.
 
Die Zersiedelung der Stadtränder und des städtischen Umlands war zunächst die Folge ungelenkter, wenig kontrollierter Bautätigkeit, wobei »Schwarzbauen« und mangelhafte Bauaufsicht eine bedeutende Rolle gespielt haben. Im Folgenden sollen nun einzelne Gesichtspunkte der Zersiedelung im Umland von Agglomerationskernen herausgestellt und deren Beziehungen zueinander aufgezeigt werden.
 
Die Forderungen unserer Gesellschaft nach Mobilität und Ungebundenheit bringen immer mehr Singlehaushalte und immer weniger große Familien hervor. Dies führt zwangsläufig zu einem gesteigerten Platzbedarf, weil die Anzahl der Haushalte und die damit verbundenen Grundausstattungen zunehmen. Die Wohnfläche pro Person ist allein von 1986 bis 1993 von 34,4 auf 35,4 Quadratmeter gestiegen. Besonders problematisch wirkt sich jedoch die in vielen Städten zu beobachtende flächenhafte Ausbreitung der städtischen Siedlungsweise in das ländlich geprägte Umland aus. Der Wunsch vieler Stadtmenschen nach einem Wohnsitz im Grünen ist zwar durchaus verständlich, doch tragen Einzelhaussiedlungen, vor allem wenn sie abseits der geschlossenen Ortsbebauung liegen, wesentlich zur Zersiedelung der Landschaft bei. Der massenhafte Andrang der Mittel- und Oberschicht auf die Umlandbezirke hat beispielsweise in den USA zu einer extremen Ausdehnung einiger Städte geführt.
 
 Bauspekulationen
 
Es leuchtet ein, dass das dynamische Umfeld eines Ballungsraums unter Umständen sehr gewinnbringende Geschäfte mit freien und wieder frei gewordenen Flächen ermöglicht. Oftmals erliegen Spekulanten und öffentliche Hand der gewinnbringenden Ausweisung von Bauland und greifen dabei zu halblegalen oder gar illegalen Mitteln. Ganz neue Stadtteile sind an Stellen entstanden, wo man sie nie vermutet oder erwartet hätte, wenn man die Standortqualität nach rein funktionalen und qualitativen Maßstäben bewertet. Denn nicht selten orientieren sich die Kommunen an den Wünschen privater Grundbesitzer. Aber auch die ganz legale Art der Bauspekulation führt im Umland von Agglomerationskernen zur Beschleunigung der Zersiedelung. Finanzstarke Immobilienfirmen halten dabei schon längst zu Bauland ausgewiesene Flächen extrem lange zurück, bevor sie sie erneut verkaufen. Auf diese Weise wird eine geschlossene Bebauung verhindert und die Gemeinde gezwungen, immer mehr Bauland in der freien Fläche auszuweisen. Auch »Schwarzbauten«, die von den lokalen Behörden häufig jahrelang toleriert werden, tragen in erheblichem Maß zur Zersiedelung bei.
 
Im ländlichen Raum sind Wohngebäude, die als Wochenendhaus, Zweitwohnsitz oder auch zum ständigen Bewohnen, insbesondere an landschaftlich besonders schönen Standorten, ohne Rücksicht auf das Siedlungsgefüge errichtet wurden, der gängigste Zersiedelungsfaktor. Am Beispiel des Tegernsees in Oberbayern zeigt sich, wie durch jahrzehntelange Umgehung des Bundesbaurechts ein Landschaftsschutzgebiet letztendlich völlig zersiedelt wurde: Zunächst wirkten hier örtliche Grundeigentümer — zumeist Landwirte —, die das Verkaufspotenzial ihrer seenahen Flächen erkannt hatten, auf die Gemeinde ein, Baugrund auszuweisen. Der durch die darauf folgende Bebauung neu hinzugekommenen Bevölkerung reichten jedoch schon bald die Erwerbsmöglichkeiten nicht mehr aus. Die Ansiedlung von Gewerbe zog, zusammen mit der sich weiter ausbreitenden Wohnbebauung, eine entsprechende Infrastruktur durch Straßen und Versorgungseinrichtungen nach sich. Da sich diese Einrichtungen aus der Sicht der Gemeinden und Landkreise bezahlt machen mussten, erforderte dies weitere Bautätigkeit.
 
 Die Folgen der Zersiedelung
 
Eine unkonzentrierte, flächenhafte Siedlungstätigkeit hat, wie gerade geschildert, die Errichtung von Verkehrs- und Versorgungswegen zur Folge. Während sich die landschaftszerstörenden Wirkungen von Versorgungsleitungen, beispielsweise von Hochspannungsleitungen, im Wesentlichen auf optische Beeinträchtigungen beschränken, sind Verkehrswege als Folge von Zersiedelung eine der Hauptursachen für Landschaftsverbrauch und -zerstörung. In Deutschland nehmen allein die Verkehrsflächen 4,7 Prozent der gesamten Bodenfläche ein; das entspricht 1,64 Millionen Hektar oder 16 400 Quadratkilometer, eine Fläche größer als die Gesamtfläche Thüringens. Diese Verkehrsflächen beinhalten neben befestigten Straßen auch Bahngleise, Flughäfen, Grünstreifen, Böschungen, Kanäle, Plätze, Fußgängerzonen sowie Feld- und Waldwege. Der Anteil der befestigten Straßen an der Gesamtbodenfläche beträgt in Deutschland 1,2 Prozent.
 
Zum Landschaftsflächenverbrauch trägt nicht nur der bloße Flächenverbrauch der Verkehrswege bei. Lärm und Emissionen wirken sich auf breite Belastungsbänder links und rechts des Verkehrswegs aus. Demzufolge beeinträchtigen Abgase die Flora und Fauna auf einem 200 Meter breiten Streifen beiderseits der Fahrbahn, die Lärmteppiche der Autobahnen sind bis zu 1000 Meter breit. Die Auswirkungen einer durch einen Wald verlaufenden Straße erstrecken sich beispielsweise oftmals auf das Hundertfache der reinen Fahrbahnfläche. Ähnliches gilt auch für die Schienenverkehrswege, wobei hier die Emission von Abgasen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der in Intervallen kurzfristig auftretende Lärmpegel verursacht allerdings eine starke Beeinträchtigung der Fauna. Während eine relativ konstante Geräuschemission, wie sie meist vom Autoverkehr verursacht wird, für Tiere zur Gewohnheit wird, verursachen rasch heranfahrende Züge immer wieder Fluchtmomente. Dies wirkt sich gerade im Winter negativ auf den Energiehaushalt von Wildtieren aus. Auch Zerschneidungs- und Verinselungseffekte tragen erheblich zur landschaftsschädigenden Wirkung von Verkehrswegen bei.
 
Besonders bei Landschaftsräumen im Umfeld großer Verdichtungsräume ist bereits abzusehen, wann diese nicht wesentlich mehr als eine von Straßen durchschnittene Superabstandsfläche zwischen den Orten sein werden. Eine solche Landschaft kann den Erholungsdruck des angrenzenden Verdichtungsraums nicht mehr oder nur noch zu einem geringen Teil abfedern. Dies hat wiederum die Erschließung neuer, aber weiter entfernter Erholungsräume und damit wiederum eine gesteigerte Straßenbautätigkeit zur Folge, bis auch hier die eigentliche Erholungsfunktion zerstört ist. Es handelt sich also um einen Teufelskreis, der auf lange Sicht — wie das Beispiel Münchens zeigt — die Wohnqualität in einem Verdichtungsraum reduziert, der ursprünglich wegen seines hohen Freizeitwerts beliebt war.
 
Einige Experten sehen jedoch den Höhepunkt des Landschaftsverbrauchs durch den Straßenverkehrswegebau bereits überschritten, da sowohl im kommunalen als auch im Fernstraßennetz bereits genügend Potenzial vorhanden ist, das stärker ausgelastet werden kann. Zudem konzentriert sich der Ausbau von Fernstraßen immer häufiger darauf, die Kapazität bestehender Verkehrswege zu vergrößern und nicht wieder neue Trassen anzulegen, wodurch sich zumindest das Ausmaß der Landschafts- und Biotopzerschneidung in verträglicher Weise verringern lässt.
 
 Zerschneidungs- und Verinselungseffekte
 
Nicht nur Verkehrswege und Siedlungen tragen zur Minimierung und Verkleinerung der ökologisch relevanten Flächen bei. Auch landwirtschaftliche Intensivflächen und forstwirtschaftliche Monokulturen stellen gerade für Kleinlebewesen oft unüberwindbare Hindernisse dar. Wie auch auf kleinen isolierten Inseln im Meer reduziert sich die Artenvielfalt auf den durch Verkehrs-, Siedlungs-, Erholungs- und Industrieflächen isolierten naturnahen Flächen immer weiter. Die Inselbildung verhindert den Individuenaustausch, führt zu Inzucht und Erbschäden und beschleunigt das Aussterben gefährdeter Arten. In den zu klein gewordenen Biotopen sind keine größeren heimischen Tierarten mit einem größeren Aktionsradius wie etwa Luchs und Fischotter mehr zu finden, wenn auch hierbei noch andere Ursachen eine Rolle spielen.
 
Das Ziel, durch Naturschutzgebiete größere Flächen naturnah und als Lebensraum für heimische Tiere und Pflanzen zu erhalten, ist heute wegen der bereits eingetretenen Zersiedelung und Zerschneidung kaum mehr erreichbar. Man ist hierbei auf schon vor langer Zeit ausgewiesene Landschaftsschutzgebiete angewiesen, die aber mit der Zeit durch dringliche, aber im Prinzip widerrechtliche Eingriffe ebenfalls immer mehr geschrumpft sind. Die Naturschutzgebiete nahmen in Deutschland 1995 — verteilt auf viele kleine Einzelgebiete — mit 6590,7 Quadratkilometern lediglich 1,8 Prozent der Gesamtfläche ein. Manche dieser Gebiete sind so klein, dass aufgrund der Einwirkung von Störfaktoren aus benachbarten Nutzungsräumen eine Schutzwirkung kaum mehr gewährleistet ist. Zusätzlich werden 52 Prozent davon als Erholungsgebiete genutzt — viele so stark, wie beispielsweise der Tegernsee, dass ihre Schutzwürdigkeit infrage gestellt ist.
 
 Gerichtete Dichte: attraktives Wohnen bei geringem Flächenverbrauch
 
Eine Möglichkeit, Landschaftszerstörung durch Zersiedelung im Rahmen der Siedlungsstrukturplanung zu verhindern, ist das Konzept der gerichteten Dichte. Darunter versteht man eine behutsame Nachverdichtung im Sinne von Stadterneuerungsmaßnahmen, sodass bei einer höheren Siedlungsdichte eine gesteigerte Wohnumfeldqualität entsteht. Dies ist durch kleinräumige Funktionsmischungen zu erreichen, die es unnötig machen, beispielsweise auf dem Weg zum Arbeitsplatz, zum Einkaufen oder zu Freizeitaktivitäten größere Distanzen zurückzulegen. Kürzere Wege führen vor allem im motorisierten Individualverkehr zu Einsparungen und damit zu einer Verringerung von Verkehrswegen. Erholungsgebiete in Wohnortnähe verhindern außerdem eine Zersiedelung in den ländlichen Gebieten des Umlands. Der Wunsch nach einem Haus im Grünen kann somit durch eine gesteigerte Lebensqualität in der Stadt ersetzt werden.
 
Prof. Dr. Hans-Dieter Haas
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Stadt: Ökologische Aspekte
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Lebensraum: Zerstörung durch Landerschließung
 
 
Ammer, Ulrich / Pröbstl, Ulrike: Freizeit und Natur. Probleme und Lösungsmöglichkeiten einer ökologisch verträglichen Freizeitnutzung. Hamburg u. a. 1991.
 Bossel, Hartmut: Umweltwissen. Daten, Fakten, Zusammenhänge. Berlin u. a. 21994.
 
Öko-Lexikon. Stichworte und Zusammenhänge, herausgegeben von Hartwig Walletschek u. a. München 51994.
 Olsson, Michael / Piekenbrock, Dirk: Gabler-Kompakt-Lexikon Umwelt- und Wirtschaftspolitik. Wiesbaden 31998.
 
Umweltdaten Deutschland 1995, herausgegeben vom Umweltbundesamt u. a. Berlin u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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